Wer wird wie PräsidentIn der EU-Kommission?

Europa hat gewählt, aber was folgt daraus? Im zweiten Teil unserer Serie zur Europawahl haben wir mit EU-Experte Professor Michael Kaeding über die Ergebnisse der Wahl gesprochen. Wie geht es nun weiter mit der EU und wer wird eigentlich Kommissionspräsidentin oder Kommissionspräsident?

Herr Professor Kaeding, was war das Besondere an dieser Europawahl?

Kaeding: Mich hat es insgesamt überrascht, wie anders diese Wahl im Vergleich zur Europawahl 2014 war – hinsichtlich des Wahlkampfes und hinsichtlich der Ergebnisse. Im Wahlkampf 2019 war es zum Beispiel sehr schwierig, die Unterschiede zwischen den Parteien festzustellen. Letztendlich ging es eher darum, für Europa an sich zu begeistern und zu mobilisieren. Bei den Wahlkämpfen 2009 und 2014 standen eher Sachthemen im Vordergrund, wie die Euro-Schuldenkrise oder das Thema Migration. Hier konnten sich die Parteien klarer voneinander abgrenzen.
Und wenn man sich die Wahlergebnisse mal ein bisschen genauer anschaut, ist sehr interessant zu sehen, wie wahnsinnig unterschiedlich Europa gewählt hat. In Rumänien zum Beispiel hat ein neues Parteibündnis aus dem Stand 22 Prozent geholt. In anderen Ländern wie Malta haben Regierungsparteien gewonnen, oder wie in Ungarn sich die Opposition ganz neu geordnet. Ein anderes Beispiel ist die Wahlbeteiligung: Die ist bei dieser Wahl deutlich gestiegen, in Spanien und Deutschland besonders stark, aber eben nicht überall in Europa.

Dass die Wahlbeteiligung bei der Europawahl immer niedriger war als bei nationalen Wahlen, ist eines der Argumente dafür, dass die Europawahl als Nebenwahl bezeichnet wird. Gilt diese Nebenwahlthese immer noch?

Kaeding: Tatsächlich ist man sich in der Wissenschaft gar nicht einig, ob die Argumente der Nebenwahlthese für ganz Europa gelten. Es gibt einige Wissenschaftler, die sagen, dass osteuropäische Länder nicht diesem Muster folgen: Viktor Orbáns Fidesz in Ungarn hat beispielsweise einen Sitz hinzugewonnen. Daran sieht man, dass ein klassisches Argument der Nebenwahlthese, nämlich dass Regierungsparteien abgestraft werden, dort und auch in anderen osteuropäischen Ländern nicht funktioniert.
Frankreich ist hingegen ein ganz klassisches Beispiel für ein Land, in dem die Nebenwahlthese nach wie vor klar gilt: Die Regierungspartei von Macron wurde bei der Europawahl im Vergleich zur letzten nationalen Wahl abgestraft. Dafür hat mit der extremen Rassemblement National nun eine Oppositionspartei deutlich gewonnen. Außerdem lag die Wahlbeteiligung deutlich unter der bei der Präsidentschaftswahl und kleinere Parteien wie die Grünen waren sehr stark. Da passt die These also total.
In Deutschland ist es fraglich. Einerseits wurden die Regierungsparteien abgestraft und mit den Grünen hat auch eine Oppositionspartei stark zugelegt. Aber was ist zum Beispiel mit der FDP oder Linken? Auch bei der AfD ist der Unterschied zum Ergebnis bei der Bundestagswahl minimal. Da passt das mit der Nebenwahl einfach nicht mehr.
Es gibt also einige Länder, da hat die These noch nie gepasst, einige Länder, da passt sie immer noch schablonenhaft, und es gibt Länder, die sich meines Erachtens davon wegbewegen.

Was die künftigen Mehrheiten im Parlament anbelangt, gibt es für eine große Koalition aus EVP und S&D nun zum ersten Mal keine absolute Mehrheit mehr. Wie verändert das die Arbeitsweise im Parlament?

Kaeding: Dazu muss man wissen, dass der Zusammenhalt in den Fraktionen im Europaparlament nicht so groß ist. Die Gefahr ist dort immer schon groß gewesen, dass ganze nationale Delegationen nicht der Fraktionslinie folgen. Man brauchte also immer schon eine dritte Fraktion. Dieser Königsmacher war bisher die liberale ALDE-Fraktion. Neu ist jetzt, dass EVP und S&D auch rein rechnerisch immer auf eine dritte Kraft angewiesen sind. Neu ist auch, dass die Grünen nun ein Machtpotenzial haben. Aber die EVP und die Grünen? Das ging in der Vergangenheit selten gut. Sowohl die Liberalen als auch die Grünen werden aber jetzt versuchen, ihren dazugewonnenen Einfluss geltend zu machen. Aber bei der praktischen Entscheidungsfindung im Parlament wird sich weniger ändern als noch vor vielen Monaten angenommen. Oft war da die Rede von einem potenziell „gelähmten Europaparlament“.

Die große Frage im Moment ist sicherlich: Wer wird der nächste Kommissionspräsident oder die nächste Kommissionspräsidentin?

Kaeding: Allen Beteiligten wird erst einmal daran gelegen sein, einen Kandidaten oder eine Kandidatin zu finden, der oder die eine Unterstützung durch die Mehrheit von EVP, S&D, ALDE und Grünen haben wird. Und ich sage hier ganz bewusst Mehrheit, da es wie gesagt keinen verlässlichen Zusammenhalt innerhalb der Fraktionen gibt. Die Fraktionsdisziplin im EP ist eben viel schwächer ausgeprägt im Vergleich zum Bundestag.
Im Moment ist Margrethe Vestager (ALDE) die Kandidatin, die am heißesten gehandelt wird. Der Posten des Ersten Vizekommissionspräsidenten würde in dem Modell dann an Michel Barnier (EVP) gehen. Er würde weiterhin die Brexit-Verhandlungen führen, aber gleichzeitig als Nummer zwei der neuen Kommission eine wichtige Aufwertung erfahren. Beide Posten würden für zukünftige stabile Mehrheiten im EP sorgen, da mit Vestager eine Spitzenkandidatin gewählt würde und somit auch die Unterstützung der Grünen gesichert wäre.
Manfred Weber könnte Parlamentspräsident werden, denn die EVP ist dort die stärkste Fraktion und die deutsche Delegation in der EVP weiterhin die größte. Das würde in Verbindung mit Jens Weidmann als möglicher EZB-Präsident auch Angela Merkel und Annegret Kramp-Karrenbauer zufrieden stimmen.
Natürlich muss man aber auch den Sozialdemokraten entgegenkommen. Zum einen würde nach zweieinhalb Jahren der S&D die EP-Präsidentschaft angeboten und man wird entweder den Spitzenkandidaten Frans Timmermans oder Maroš Šefčovič, einen langjährigen EU-Kommissar aus einem der Visegrád-Länder, als Hohen Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik berücksichtigen.
Und dann wäre natürlich noch der Präsident des Europäischen Rates zu besetzen. Das müsste dann auf jeden Fall wieder eine Frau werden – am besten auch aus Osteuropa, um geografische Aspekte ernst zu nehmen. Hier könnten sich dann Frau Grybauskaitė, die ehemalige litauische Präsidentin, oder Frau Georgiewa aus Bulgarien anbieten, die gerade für die World Bank arbeitet und zuvor schon EU-Kommissarin war – das wären richtige Schwergewichte und würde wichtige Signale in die jeweiligen Länder bzw. Regionen Europas senden.

Kommen wir nun einmal zu den rechten Parteien. Ist es aus Ihrer Sicht denkbar, dass sich die große Gruppe der rechten Parteien in einer Art Mega-Fraktion organisieren könnte?

Kaeding: Nein, ich glaube nicht, dass es das geben wird. Die rechten Parteien unterscheiden sich einfach zu stark. Ich sehe auch nicht, dass zum Beispiel Fidesz in eine Fraktion mit Salvini gehen könnte. Da sind Welten dazwischen.
Es gibt aber auch eine andere Besonderheit, über die jetzt noch nicht so viel gesprochen wurde. Wir haben nämlich vermehrt den Fall, dass rechts- und linkspopulistische Parteien, die in ihren Mitgliedsstaaten 2014 noch in der Opposition waren, jetzt, 2019, in Regierungsverantwortung sind. Dadurch sitzen mehr extreme Vertreter im Europäischen Rat und im Ministerrat und haben dort auch in Zukunft vermehrt Einfluss, um Entscheidungen auf europäischer Ebene zu erschweren.

Zum Ende würden wir von Ihnen gerne noch wissen, was denn die nächsten Schritte sind auf dem Weg zur neuen Kommission. Wie geht’s weiter?

Kaeding: Am Dienstag nach der Wahl haben sich direkt die europäischen Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat zusammengesetzt, die von nun an über den neuen Kommissionspräsidenten oder die neue Kommissionspräsidentin beraten. Am 2. Juli ist dann die konstituierende Sitzung des Parlaments, bei der der oder die Kommissionspräsident oder -präsidentin gewählt werden soll, der oder die dann über den Sommer ein Team zusammenstellen soll. Danach kommen die Anhörungen für die vorgeschlagenen Kommissarinnen und Kommissare im September und Oktober, sodass zum 1. November dann die neue Kommission ihr Amt antreten kann.

Sind sie denn zuversichtlich, dass dieser Zeitplan auch eingehalten wird?

Kaeding: Der Zeitplan ist in der Vergangenheit nicht immer aufgegangen, aber ich glaube eigentlich schon, dass wir so viele Themen haben, die europäisch gelöst werden müssen, dass alle vernünftigen Politikerinnen und Politiker – und davon gibt’s viele im Europäischen Parlament, vor allem in den vier größten Fraktionen – ein Interesse daran haben, dass wir schnell eine funktionsfähige Kommission bekommen, um an den großen Themen der Zukunft weiterzuarbeiten.

Vielen Dank für das Gespräch.

Michael Kaeding ist seit 2012 Inhaber des ad personam Lehrstuhls für Europäische Integration und Europapolitik am Institut für Politikwissenschaft der Universität Duisburg-Essen. Er leitet das Netzwerk Europawissenschaften für NRW (NEW:NRW), ist Vorsitzender von TEPSA (Trans European Policy Studies Association) und ist Initiator von „NRW Debattiert Europa“. Darüber hinaus verfügt er über zahlreiche wissenschaftliche Funktionen und ist Gastprofessor an der Türkisch-Deutschen Universität in Istanbul, am EIPA in Maastricht und am Europakolleg in Brügge.

Die Fragen stellten Jan Eike Schönfelder und Tim Frehler.

Jeden Freitag demonstrieren Schülerinnen und Schüler für mehr Klimaschutz. Aber welchen Einfluss hatten die Fridays for Future-Demonstrationen auf den Wahlkampf? Das lesen Sie in in Kürze in Teil drei unserer Serie zur diesjährigen Europawahl.