Freiheit durch politische Partizipation

Renoncer à sa liberté, c’est renoncer à sa qualité d’homme“ – „Auf seine Freiheit zu verzichten, heißt auf seine Eigenschaft als Mensch zu verzichten“, behauptete Jean-Jacques Rousseau in einem seiner bekanntesten Werke der Staatsphilosophie, „Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts“ (1762).

Der Diskurs über Freiheit ist heute aktueller denn je. Vor einigen Wochen haben wir in Deutschland 100 Jahre Wahlrecht für Frauen und somit ihre Freiheit sich an der politischen Zusammensetzung ihres Staates zu beteiligen, gefeiert. Das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland möchte mit seinem Austritt aus der Europäischen Union seine Freiheit wiedererlangen. Die Bundesländer lehnen die Grundgesetzänderung, mit der der Bund die Möglichkeit hat Finanzierungsbeihilfen für die Bildungspolitik zu leisten, ab. Sie befürchten nämlich ihre Gestaltungsfreiheit zu verlieren.

Selbstverständlich war die Einführung des Wahlrechts für Frauen in Deutschland vor 100 Jahren wichtig und richtig. Frauen waren dennoch nicht wirklich frei. So waren 1919 in den deutschen Parlamenten nur knapp neun Prozent Frauen. Voraussetzung für ihre Erwerbstätigkeit war das Einverständnis ihrer Ehemänner. Heute können Frauen ohne das Einverständnis ihrer Ehemänner arbeiten, aber der Anteil von weiblichen Abgeordneten im Vergleich zu männlichen ist immer noch gering (siehe hammelsprung-Artikel vom 26.11.2018). Freiheit für Frauen heißt nicht nur, von ihrem aktiven und passiven Wahlrecht Gebrauch zu machen, sondern in allen Lebensbereichen Chancengleichheit zu gewährleisten. Frauen verzichten nicht auf ihre Eigenschaft als Mensch, sondern kämpfen für ihre Freiheit – weltweit – seit mehr als 100 Jahren.

In Großbritannien hingegen wird immer noch gestritten, ob der sogenannte „Brexit“ tatsächlich eine Befreiung von der Europäischen Union darstellt. Viele Abgeordnete im Vereinigten Königreich kritisieren, dass der vorgeschlagene Deal zwischen ihnen und der EU eine Handelsgrenze zwischen Nordirland und Großbritannien zieht. Für eine Änderung dieser Regelung braucht es die Zustimmung der EU. Deshalb stellt sich für viele BritInnen die Frage: Sind wir nach einem Austritt wirklich frei oder noch eingeschränkter, weil uns von Brüssel Regelungen diktiert werden, obwohl wir nicht mehr Mitglied sind? Am kommenden Dienstag entscheidet das britische Unterhaus über den Deal mit der EU. Diese Abstimmung wird auch darüber entscheiden, ob sie auf ihre Eigenschaft als souveräner Nationalstaat im Sinne Rousseaus verzichten werden oder nicht.

Zeitgleich haben die MinisterpräsidentInnen der Bundesländer am vergangenen Mittwoch einstimmig beschlossen, die geplante Grundgesetzänderung in den Vermittlungsausschuss zu übergeben und sie vorerst abgelehnt. Die Bildungspolitik ist eines der letzten Politikfelder, in dem die Bundesländer frei vom Bund entscheiden und gestalten können. Eine Finanzierungshilfe durch den Bund könnte für die Bundesländer womöglich auch bedeuten, ihre Gestaltungsfreiheit in diesem Politikfeld teilweise zu verlieren. Denn wer fördert kann auch fordern. Die Bundesländer wollen auf ihre Eigenschaft der Kultur(frei)heit nicht verzichten. NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) behauptet, dass eine Änderung des Grundgesetzes für die Umsetzung des Digitalpakts nicht notwendig sei. Das Geld könne auch über die Gemeinschaftssteuer an die Bundesländer ausgezahlt werden. Hans-Ulrich Rülke, Fraktionsvorsitzender der FDP im Bundestag, erklärt, diese Änderung sei notwendig, damit das Geld des Bundes tatsächlich in Bildungsvorhaben investiert wird. Laschet weist diesen Vorwurf ab.

Rousseau sah den Schutz der Souveränität und Freiheit in der regelmäßigen Versammlung der BürgerInnen. In Westeuropa wurde Rousseaus Idee von direkter Demokratie zurecht nicht umgesetzt. Formal sind unsere Demokratien heute repräsentativ, so dass sich unsere Abgeordneten regelmäßig für uns versammeln. Allerdings kann aus dieser Forderung Rousseaus eine wichtige Prämisse abgeleitet werden: politische Partizipation – das heißt, bürgerliche Beteiligung an politischen Vorgängen.

Politische Partizipation heißt nicht nur, regelmäßig Abgeordnete zu wählen, sondern auch unsere bestehende Freiheit und Eigenschaft als Mensch zu verteidigen. Wir dürfen denjenigen, die durch nationalistische, extremistische und unilaterale (d.h. ohne Einbeziehung aller Beteiligten) Parolen unsere Freiheit gefährden, keine Plattform bieten. Politische Partizipation heißt auch, den Status Quo konstruktiv in Frage zu stellen und über Umgestaltungen nachzudenken (siehe hammelsprung-Artikel vom 03.12.2018). Politische Partizipation heißt auch, sich lokal zu engagieren. Nachbarn nicht verurteilend zu beäugeln, sondern in einen Dialog einzutreten, Anliegen auszutauschen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen.

Ein Beitrag von Najma Yari.

Najma Yari ist Chefredakteurin des hammelsprung. Sie studierte Politikwissenschaft und Soziologie in Frankfurt/Main und ist seit 2017 Masterstudentin an der NRW School of Governance. Praktische Erfahrungen sammelte sie u.a. bei der GIZ in Frankfurt und der Heinrich-Böll-Stiftung in Kabul. Zuletzt arbeitete sie für einen Essener Träger mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen.