Von Bonn nach Berlin: Ein Umzug mit Folgen

Seitdem der Politikbetrieb 1999 vom Rhein an die Spree übersiedelte, hat sich das einst familiäre Arbeitsklima deutlich professionalisiert. Der Umzug allein kann den Wandel nicht erklären, aber er hat ihn beschleunigt. Dabei war der Ortswechsel anfangs hoch umstritten. Eine Spurensuche mit Heinz Riesenhuber und Carsten Schneider.

 von Martin Krybus

Bonn oder Berlin? Vor dieser Frage stand der Deutsche Bundestag am 20. Juni 1991. Der Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR hatte Berlin zwar wieder zur Hauptstadt bestimmt, jedoch offen gelassen, wo Parlament und Regierung künftig ihren Sitz haben sollten. Einerseits war Bonn das Symbol für den Erfolg der westdeutschen Nachkriegsdemokratie und der Politikbetrieb dort bestens eingespielt, andererseits wäre ein Umzug nach Berlin ein Aufbruchsignal für das Zusammenwachsen der beiden Teile Deutschlands. Die Bundestagsdebatte über den möglichen Umzug war darum überaus kontrovers – der Riss zwischen Befürwortern und Gegnern verlief quer durch alle Fraktionen.

Während sich um Kanzler Kohl und Altkanzler Brandt ein großer Kreis prominenter Berlin-Unterstützer gruppierte, deuteten Umfragen unter den Abgeordneten hingegen auf ein klares Votum zugunsten Bonns. Umso mehr überraschte das Abstimmungsergebnis: 337 Stimmen für Berlin, nur 320 für Bonn. Die Kompromissbereitschaft der Berlin-Fraktion trug sicher dazu bei, denn man hatte Arbeitsteilung zwischen beiden Städten und zudem eine fi nanzielle Entschädigung für Bonn versprochen. Zu unterschätzen ist aber nicht die Wirkung der emotional aufgeladenen Debatte.

Der damalige Bundesforschungsminister Heinz Riesenhuber erinnert sich an eine »bemerkenswerte Rede« seines Kabinettskollegen Wolfgang Schäuble. Indem er die historische Dimension der Abstimmung betonte, konnte Schäuble eine Reihe von Umzugsgegnern noch umstimmen. Riesenhuber ist heute Alterspräsident des Bundestags, dem er seit 1976 angehört. Auch er hat am 20. Juni 1991 für Berlin gestimmt. Warum die Hauptstadt Berlin nicht gleichsam Regierungssitz sein sollte, erschien ihm nicht plausibel. Zudem versprach er sich von Berlin für die innere Einheit Deutschlands eine »integrierende Kraft, die durch anderes nicht zu erreichen ist«. 1991 dachten nicht nur viele Abgeordnete anders. Ganz Bonn fürchtete sich vor negativen Auswirkungen. Riesenhuber verdeutlicht diese Stimmung mit einer Anekdote über einen damaligen Abteilungsleiter im Bundesforschungsministerium, der sich nach dem Votum zugunsten Berlins vor sinkenden Immobilienpreisen in Bonn ängstigte – und seine sicher geglaubte Altersvorsorge dahinschwinden sah. Eingetreten ist das nicht. In Bonn sind die Immobilienpreise genauso gestiegen wie die Zahl der Arbeitsplätze.

Abschied und Neubeginn

Verantwortlich dafür ist nicht zuletzt das Bonn/Berlin-Gesetz, welches den Kompromissvon 1991 konkretisierte. Bonn wurde Bundesstadt, durfte einen Teil der ansässigen Bundesverwaltung behalten, während sich zum Ausgleich andere Einrichtungen neu am Rhein ansiedelten und grosszügige Finanzmittel in die Region flossen. Der Umzug von Bonn nach Berlin erfolgte schließlich erst 1999, als Bundestag, Kanzleramt und Teile der Bundesregierung an die Spree übersiedelten. Dort ging es anfangs recht provisorisch zu. Neben dem Bundeskanzler waren auch etliche Abgeordnete zunächst behelfsmäßig untergebracht, weil Teile der Großbaustelle Berlin-Mitte noch nicht fertig gestellt waren. Zum Bedauern ihres Chefs wollte Heinz Riesenhubers langjährige Sekretärin in Bonn bleiben und ging nicht mit nach Berlin. Riesenhuber selbst fiel der Ortswechsel weniger schwer: »Man schaut sich zwar gern noch einmal die alten Plätze an. Aber letztlich war der Umzug eine Aufgabe, die zu managen war, so wie andere auch.« Es überwogen die praktischen Erfordernisse. In Berlin mussten Wohnung, Büro und Mitarbeiter neu gesucht werden.

Auch Carsten Schneider beschreibt den Umzug als geschäftsmäßigen Vorgang. Der SPD-Haushälter zog 1998 als damals jüngster Abgeordneter in den Bundestag ein und erlebte so noch den Abschied vom Standort Bonn und anschließend die Entstehung dessen, was Beobachter als Berliner Republik bezeichnen. Der Neuling von einst gehört damit zur kleiner werdenden Parlamentarier-Gruppe mit Bonn-Erfahrung. Nur knapp 30 Prozent der aktuell 620 Abgeordneten waren schon 1998 dabei. Auf eine komplette Legislaturperiode in Bonn kann nicht mal jeder fünfte zurückblicken. Weil jedoch nur wenige dem Parlament so lang angehören wie Heinz Riesenhuber, ist dieser schrittweise Personalaustausch nichts Besonderes. Im Umfeld der Politik gab es hingegen weniger kontinuierliche personelle Veränderungen – etwa bei Journalisten und Interessenvertretern.

»Es ging in Bonn familiärer zu.«

Mit Blick auf die Berliner Hauptstadtpresse spricht Carsten Schneider von einer »neuen Journalistengeneration«. Viele der Bonner Journalisten wären in Nordrhein-Westfalen geblieben, weshalb der Aufbau der Berliner Hauptstadtredaktion einem Generationswechsel gleichkam. Dass sich an der Spree zudem die Anzahl der Journalisten erhöht hat, blieb nicht folgenlos. »Es geht heute mehr um den Nachrichtenwert und die Suche nach der exklusiven Geschichte. Hintergrundgespräche sind in Berlin keine Hintergrundgespräche mehr – und darum viel seltener als in Bonn«, beschreibt Schneider den Wandel im Verhältnis von Politik und Medien. Auf die veränderte Arbeitsweise des journalistischen Gegenübers antwortet die Politik gleichsam mit weniger Vertraulichkeit und mehr Distanz. Heinz Riesenhuber schlägt ganz ähnliche Töne an, wenn er rückblickend sagt: »In Bonn kannte man die Journalisten.« Dass es heute anonymer und vorsichtiger zugeht, ist dabei nur ein Aspekt der Veränderung. Gewandelt hat sich auch die Form der medialen Politikvermittlung. Was Riesenhuber als »Talkshow-Inflation, die mehr Showboxen als eine Klärung der Sache ist« bezeichnet, nahm seinen Anfang streng genommen noch zum Ende der Bonner Zeit – als Sabine Christiansen 1998 ihr sonntägliches TV-Ersatzparlament eröffnete. Von der Medienbranche zum Lobbyismus: Auch die Interessenvertreter haben sich in Berlin stark vermehrt. Unter anderem mag es an den Großunternehmen liegen, die zunehmend auf eigene Interessenvertretungen in der Hauptstadt setzen, anstatt sich wie einst auf die Arbeit der Wirtschaftsverbände zu verlassen. Solche Ausdifferenzierungen führen wie bei den Journalisten zu einem veränderten Umgang von Politikern und politischem Umfeld. Heinz Riesenhuber skizziert folgenden Hauptunterschied zwischen beiden Hauptstädten: »Es ging in Bonn familiärer zu. Es war alles kleiner und enger. Und in einer mehr geschlossenen Community als dann in Berlin. Zudem wurde das Geschäft – so scheint mir – sehr viel kurzfristiger und schneller.«

Berlin als mehrdimensionale Hauptstadt

Nicht ganz unschuldig daran dürfte die neue Hauptstadt an sich sein. DieMillionenmetropole Berlin unterscheidet sich eben vom »Bundesdorf« Bonn mit seinen 300.000 Einwohnern. Und genauso wie sich die Stadt auf den Politikbetrieb auswirkt, so hat sich die Stadt durch den Hauptstadtstatus ebenfalls verändert. Die im vergangenen Jahrzehnt rasant gestiegene Anziehungskraft Berlins steht auch mit dem Regierungsumzug in Zusammenhang.Eine solche Sogwirkung besaß das HauptstadtprovisoriumBonn schon deshalb nie, weil es immer nur politisches Zentrum war. Ansonsten war Bonn in der alten Bundesrepublik neben München, Frankfurt oder Hamburg eine Stadt neben anderen. Berlin ist demgegenüber die mehrdimensionalere Hauptstadt: Hier ist Politik nur ein Thema neben anderen. Diese thematische Weitläufigkeit, die schiere Größe Berlins und die Vervielfältigung der Akteure haben zum Ende der fast familiären Bonner Arbeitsweise beigetragen. Haben sich auch die Parlamentarier verändert seit sie in Berlin sind? »Es ist übertrieben zu sagen: Die Stadt wirkt auf die Abgeordneten. Die meisten Abgeordneten wohnen am Prenzlauer Berg oder in Mitte. Trotzdem ist die Atmosphäre eine andere als in Bonn«, urteilt Carsten Schneider. Man lebt weniger isoliert als zuvor und doch in seiner eigenen Welt. Die Berührungspunkte der Abgeordneten mit dem Hauptstadtleben bleiben – sofern gewünscht – beschränkt. Heinz Riesenhuber bilanziert: »Es gab die Hoffnung, dass die Politiker und Beamten weltläufiger werden, wenn sie vom intimen Bonn in die Großstadt Berlin kommen. Das war eine Illusion. Ich glaube nicht, dass der Umzug hierfür eine große Bedeutung gehabt hat.« Warum? »Der Arbeitsdruckund die Arbeitsverdichtung haben zugenommen. Was Berlin kulturell zu bieten hat, bekommt man nur begrenzt mit

Neue Hauptstadt – neue Republik?

Stichwort Arbeitsverdichtung: Dass der Politikbetrieb seit 1999 ein anderer geworden ist, ist durch viele Einzelfaktoren bedingt, die das Geschäft insgesamt komplexer und schwerer kalkulierbar gemacht haben – die Beschleunigung politischer Prozesse und deren internationale Verflechtung, Politik unter medialer Dauerbeobachtung, volatiles Wählerverhalten bei zunehmender Politikverdrossenheit und so weiter und so fort. Die neuen Umwelterfordernisse haben den Umgang der Politik mit dem politischen Umfeld von persönlichen Faktoren entkoppelt und auf einen professionelleren Modus umgestellt. Gleiches gilt für die Abgeordneten untereinander: »Ideologisch ist sehr viel abgebaut worden. Es geht mehr um den sachlichen Kern. Das eröffnet die Möglichkeit, technische Fragen auch technisch zu beantworten«, sagt Heinz Riesenhuber und diagnostiziert eine Professionalisierung der Arbeitsweise. Dass der Weg von dieser Feststellung zur oft beklagten Beliebigkeit der politischen Parteien nur kurz ist, steht auf einem anderen Blatt. Die Veränderungsphänomene beeinflussen sich gegenseitig und haben gemeinsam einen Wandel losgetreten, der so oder so stattgefunden hätte. Unabhängig von der Frage, ob Bundestag und Kanzleramt nun am Mittelrhein oder in der Mitte Berlins residieren. Die Ursachen liegen zumeist außerhalb Berlins, doch der Umzug hat einige Trends sicher beschleunigt. Um die spürbaren Veränderungen im Politikbetrieb – und darüber hinaus – zu illustrieren, bietet sich die Metapher Berliner Republik an. Ob eine derartige begriffliche Abgrenzung von der Bonner Republik und der Zeit vor der Deutschen Einheit aber zweckmäßig ist, bleibt eine Frage des Betrachters. Wo der Staatsrechtler die Kontinuität hervorhebt, interessiert sich der politische Beobachter für die Prozesse des Wandels, die im wiedervereinigten Deutschland stattfinden – und das nicht nur in Bonn oder Berlin.