FORTSCHRITTliche STRATEGIEbemühungen

Zu Beginn des Superlandtagswahljahres will die SPD-Spitze dem Fortschritt eine neue Richtung geben. Mit dem Fortschrittskonzept soll die Identitätskrise überwunden werden. Doch was verbirgt sich inhaltlich und machtstrategisch dahinter? Eine Interpretation von Stephan Zitzler

Kommt Zeit, kommt Rat. Diesen Eindruck gewinnt man jedenfalls von der SPD Jahresauftaktklausur. Denn während das Jahr 2010 zum Jahr der „Konsolidierung“ ausgerufen wurde und im Zeichen der Vergangenheitsbewältigung stand, soll 2011 nun „Profilierung“ und eine glorreiche Zukunft bringen. Angesichts schwacher Zustimmungswerte zwischen 23 und 27 Prozent besteht Handlungsbedarf, zumal die SPD von der Schwäche der schwarz-gelben Koalition nicht profitieren kann – die Grünen hingegen können diese voll auskosten. Die SPD will ihren Status als Volkspartei zurück, den Blick nach vorne gerichtet – raus aus der Krise. Wie macht man die Schröder-Jahre und die nachfolgende Zeit der empfundenen Orientierungslosigkeit nun am besten vergessen? Parteichef Sigmar Gabriel bietet die Lösung: Man besinnt sich auf seinen Markenkern. Wenn man die SPD schon nicht neu erfindet, dann holt man wenigstens den alten verstaubten Du-hast-mirgute- Dienste-geleistet-Karton aus dem Keller und mit ein bisschen Spucke und Politur glänzt das alte Wertefundament der SPD wieder. Schon immer verstand sich die SPD als Fortschritts-Partei, die

den Anspruch hatte, gesellschaftliche Entwicklungen zu steuern und zu gestalten. Dementsprechend ist die Idee, dem Fortschritt eine Richtung zu geben, nicht neu. Aber dennoch: Mit dem Entwurf eines erweiterten Fortschrittkonzeptes besinnt sich die SPD auf ihre Grundwerte: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität.

Alter Wein in neuen Schlauchen

Auch wenn die Aufpolierung des vormaligen politischen Leitbegriffs „Fortschritt“ keine neuartige Initiative ist, so lässt sich doch darin der strategische Versuch erkennen, die Deutungshoheit über den politischen Diskurs im linken Lager wiederzuerlangen. Die Botschaft hat einen nur allzu wahren Kern. Wir, also die Menschheit, können nicht so weiter wirtschaften wie bisher. Über

weite Strecken lassen sich gesellschaftliche Visionen nur auf eindimensionale Wachstumswünsche reduzieren, trotz ökologischer Grenzen, endlicher Ressourcen und einer Vergrößerung der Kluft zwischen arm und reich. Die SPD will das wissenschaftlich-technisch verkürzte Fortschrittsverständnis deshalb durch eine ökologische und eine soziale Komponente ergänzen, damit „wirtschaftliches Wachstum, soziale Gerechtigkeit und ökologische Verantwortung endlich in eine Balance“ gebracht werden. „Mehr Lebensqualität für alle“ symbolisiert das Endresultat. Das Bild, das so gezeichnet wird, mutet vielversprechend an. Denn was haben wir aus der letzten Wirtschafts- und Finanzkrise gelernt? Hat sich etwas geändert? Doch hebt sich der Vorhang, ist das Stück „Neuer Fortschritt und mehr Demokratie“ einschläfernd und man stolpert über politische Déjà-vus. Kurz: Es enttäuscht. Auf dem Arbeitsmarkt sollen faire Löhne und Mindestlöhne den Wandel bringen, Sozialabgaben sollen für Familien mit einem Brutto Einkommen von 800 bis 3000 Euro, die eigentlichen „Leistungsträger“ unserer Gesellschaft, reduziert werden und den Finanzmärkten soll es mit einer Finanztransaktionssteuer an den Kragen gehen. Um dies zu finanzieren, wird die gute alte solidarische Verteilungsgerechtigkeit bemüht: „Privilegierte“ sollen einen Spitzensteuersatz von 49 Prozent zahlen. Investitionen in die Bildung sind ein Lichtblick in dem Konzept, auch wenn das Konzept verschweigt, in was für ein Schulsystem investiert werden soll. Darüber hinaus wird der Konservatismus als Gegenmodell zum gesellschaftlichen Fortschritt konstruiert. Ein neuer, ambitionierter Gesellschaftsentwurf braucht aber mehr als die Summe der alten Forderungen.

Vom Ende her gedacht?

Ein wichtiges strategisches Ziel erreicht man mit der Neubesetzung des Fortschrittsbegriffs zweifelsfrei: Die SPD schärft wieder ihr Profil. Die Frage, wofür die SPD im Parteienwettbewerb eigentlich noch steht, muss glaubwürdig von der SPD-Spitze beantwortet werden. In der Politik verfolgen Strategien immer Doppelziele: Sowohl Gestaltungs- als auch Machtziele. Ohne Ziele keine Strategie – man muss vom Ende her denken. Über Gestaltungsziele lässt sich bekanntlich viel in der Politik streiten. Wie steht es aber mit den Machtzielen? Die SPD muss sich strukturelle Mehrheitsfähigkeit zum strategischen Ziel setzen. Wählerbewegungen zeigen, was das langfristige Problem der SPD ist: Verluste an die Nichtwähler. Demnach müssen Anhänger wieder durch Unverwechselbarkeit

mobilisiert werden. Ob der Fortschrittsvorstoß dies zu leisten vermag, bleibt abzuwarten. Darüber hinaus gilt es aber auch, Wechselwähler zu gewinnen und eine Abwanderung zu den Linken oder den Grünen zu verhindern. Die Grünen werden zunehmend ein erbitterter Konkurrent um jede Wählerstimme, vor allem in den Wählerschichten der 18- bis 30-Jährigen. Die SPD ist strukturell überaltert. Der eigentliche politische Gegner orientiert sich schon neu: In Baden-Württemberg erklärte Schwarz-Gelb die Grünen zum Hauptkonkurrenten und belegte die SPD mit der schlimmsten Strafe in der Politik: Der Nichtbeachtung. Doch mit dem Fortschrittsprogramm beginnt sich die SPD auch hier neu zu positionieren. Sie wirbt um junge Selbstständige, die bisher eher dazu neigten ihr Kreuz bei den Grünen zu machen. Außerdem wird betont, dass für eine dynamische Volkswirtschaft, die Voraussetzung für jegliche Umverteilung, die Verwirklichung von großen Infrastrukturprojekten unerlässlich ist – und grenzt sich somit klar von den Grünen ab. In den Landtagswahlkämpfen 2011 konnte man die Differenz erkennen: Elbvertiefung, Autobahnbau, Rheinbrücke und natürlich Stuttgart 21. Diese Probleme gab es zwar auch zuvor, aber die Deutung spielt in der Politik nun mal eine zentrale Rolle. So ergibt sich ein neuer Kontext: Während die Regierungskoalition die Grünen in die Ecke

der Dagegen-Partei stellt, erweckt die SPD den Eindruck, dass sie die Grünen für nicht fortschrittlich genug hält. Für die SPD gilt es, den „partnerschaftlichen Wettbewerb“ auf der Bundesebene zu intensivieren, auch wenn eine Wiederbelebung des rot-grünen Projektes momentan (noch) die einzige realistische Machtoption ist. Die Wirkung der Fortschrittsoffensive ist allerdings bislang im Superlandtagswahljahr ausgeblieben – das mediale Echo blieb gering. Die SPD hat den ersten Schritt gemacht, nun müssen weitere folgen. Vielleicht wird 2011 dann doch noch zum Jahr der Profilierung für die SPD.

Stephan Zitzler studiert den Masterstudiengang Politikmanagement an der NRW School of Governance der Universität Duisburg-Essen und ist Mitarbeiter des Instituts. Praktische Erfahrungen sammelte er im Landtag NRW. Seine Studienschwerpunkte sind Politikfeldanalyse und Parteienforschung.