Volksparteien ohne Volk?

Die schwindende Akzeptanz und der abnehmende Erfolg der Volksparteien lassen sich mit der zurückgehenden Bedeutung des sozio-ökonomischen und des religiös-konfessionellen Konflikts in der deutschen Gesellschaft systematisch erklären. Die Wahlanalysen zeigen: Die Großparteien stecken in der Zwickmühle. Die Parteibindungen ihrer Kernklientel bleiben relativ stabil auf einem hohen Niveau. Gleichzeitig vollzieht sich jedoch eine scheinbar unaufhaltbare Erosion dieser Milieus. Welche Handlungsempfehlungen lassen sich angesichts dieser Ausgangslage für die Parteistrategen ableiten?

von Stefan Steyer

In den siebziger und achtziger Jahren konnten die großen Parteien SPD und CDU/CSU gemeinsam regelmäßig mehr als 90 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen. Und das bei einer Wahlbeteiligung von über 90 Prozent. Doch in den letzten 30 Jahren hat der kumulierte Stimmenanteil der großen Parteien stetig abgenommen. Die Bundestagswahl 2009 stellt hierbei einen vorläufigen Tiefpunkt dar. Die Volksparteien erhielten gemeinsam deutlich weniger als 60 Prozent der Stimmen. Zusätzlich hat die Wahlbeteiligung im gleichen Zeitraum um mehr als 20 Prozent abgenommen und beträgt heute nur noch gut 70 Prozent. Der Nettoverlust an Wählerstimmen, den die Volksparteien auf sich vereinigen, ist also enorm. Doch was sind die Ursachen für diese Entwicklung? Die Langfristigkeit und Stringenz der Entwicklung lässt Erklärungen, welche die Ursachen in unpopulärem und inkompetentem Führungspersonal der Parteien oder kurzfristigen Stimmungsschwankungen innerhalb der Wählerschaft vermuten, unrealistisch erscheinen. Vielmehr liegt die Vermutung nahe, dass es sich um langfristige Verschiebungen in der Wählerstruktur und um die Auflösung langfristiger Parteibindungen bisheriger Stammwähler handelt.

Stabile Parteibindungen trotz schrumpfender Milieus

Wahlanalysen ergeben, dass das milieuspezifische Wahlverhalten nach wie vor dominiert – wenn auch allgemein ein leichter Abwärtstrend erkennbar ist. Hinsichtlich der sozio-ökonomischen Konfliktlinie präferieren Arbeiter und besonders Gewerkschaftsmitglieder immer noch die SPD, Landwirte und Selbstständige hingegen die Union. Auch der Einfluss der Konfession und der Kirchenbindung auf das Wahlverhalten bleibt insgesamt gesehen bemerkenswert stabil. Trotz eines leichten Rückgangs in den letzten zwei Dekaden entscheidet sich nach wie vor eine klare Mehrheit der Katholiken für die Union. Bei den stark kirchengebundenen Katholiken sind es gar drei Viertel, die ihr Kreuz bei den C-Parteien machen. Von einer schwindenden Bindung zwischen den alten Stammwählermilieus und „ihren“ Parteien kann also kaum die Rede sein. Unabhängig von dieser konstanten Bindung der Milieus an ihre jeweilige Partei ist in den letzten Jahrzehnten ein scheinbar unaufhaltsames Schrumpfen eben dieser Kernmilieus der alten Massenintegrationsparteien zu beobachten – was letztendlich zu dem kontinuierlichen Verlust in der Wählerzustimmung führt. Die Säkularisierung und der Wertewandel lassen die katholische kirchengebundene Klientel, welche als christdemokratische Stammwählerschaft gilt, schrumpfen. Ebenso wie die Entwicklung von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft zu einer Erosion der Arbeiterschaft, der traditionellen sozialdemokratischen Kernklientel, führte. Diese äußert sich im zurückgehenden Arbeiteranteil innerhalb der Gesellschaft sowie in sinkenden Zahlen bei den Gewerkschaftsmitgliedern. Genauso nahm sowohl die Zahl der Kirchenmitglieder als auch die Kirchenbindung der verbliebenen Mitglieder in den letzten Jahrzehnten enorm ab. Die Auswirkungen dieser Entwicklung auf die Wählerzusammensetzung der Unionsparteien ist drastisch. Der Anteil der Katholiken an den Unionswählern ging innerhalb von gut 20 Jahren um ein Drittel zurück. Bei den stark kirchengebundenen Katholiken verlief die Entwicklung noch dramatischer. Ihr Anteil sank im gleichen Zeitraum um mehr als zwei Drittel.

Die Volksparteien im wahltaktischen Dilemma

Ohne die feste Bindung zahlenmäßig bedeutsamer sozialer Gruppen an die jeweilige Milieupartei stecken die Großparteien in der Zwickmühle: Die Öffnung für neue Wählerschichten verprellt möglicherweise alte Stammwähler und das Festhalten an alten Traditionen ist angesichts der schrumpfenden Kernklientel auch keine Alternative. Für die SPD kommt noch erschwerend hinzu, dass sie sich, neben einer schrumpfenden Kernklientel, auch noch mit der Linkspartei, einer neuen politischen Kraft links der Mitte, die sich ihrem Selbstverständnis nach ebenfalls als Arbeiterpartei und gewerkschaftsnah versteht, auseinandersetzen muss. Doch die Entwicklung zur säkularisierten Gesellschaft, die mit der Wiedervereinigung noch verstärkt wurde, stellt die Union vor das gleiche Problem: Sollte man angesichts der geschrumpften und vermutlich weiter schrumpfenden Stammwählerschaft eine programmatische Neuausrichtung wagen, um sich – wie in der Vergangenheit ja bereits in einigen Politikfeldern, wie etwa der Familienpolitik, geschehennoch weiter für moderner ausgerichtete Wählergruppen zu öffnen? Ein solches Vorgehen birgt natürlich die Gefahr einer Verprellung alter Stammwähler, die gerne eine Partei mit klarem christlichen Profil hätten und sorgt zukünftig womöglich für einen schwindenden Einfluss der Faktoren Religion und Konfession auf die Wahlentscheidung, da sich keine der zur Wahl stehenden Parteien explizit dieser Thematik annimmt. Angesichts der nach wie vor hohen Stimmenanteile der Unionsparteien bei diesen Personen birgt diese Strategie ein enormes Risiko.

Strategische Entscheidungen unter Ungewissheit

Die Parteistrategen stehen folglich vor äußerst bedeutsamen – wenn nicht gar überlebenswichtigenFragen. Wer wird zukünftig von den Verschiebungen innerhalb der Wählerstruktur profitieren? Wer kann das enorm gestiegene elektorale Potential der neuen Mittelschicht, insbesondere der Angestellten, die ein besonders fluides Wahlverhalten kennzeichnet, für sich gewinnen? Wie sollten sich Union und SPD auf der Suche nach einem Profil zwischen alter Kernklientel und neuen Wählerschichten programmatisch sowie wahltaktisch verhalten? Die Erfordernisse einer strategischen Anpassung scheinen unumgänglich – sofern noch der Anspruch vertreten wird, sich Volkspartei zu nennen. Doch welche Konsequenzen sollten die Parteien daraus ableiten? Wie lässt sich das Dilemma der (ehemaligen) Volksparteien auflösen, bevor sie sich selbst auflösen?

Stefan Steyer

ist Masterstudent an der NRW School of Governance der Universität Duisburg-Essen und Mitarbeiter beim Fraunhofer Institut für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik. Zuvor studierte er Politikwissenschaft und Wirtschaftswissenschaften in Halle/Saale und war in der Bundesgeschäftsstelle des Umweltverbandes Robin Wood tätig.