warum wahlrechtsreformen eine heikle angelegenheit sind

Über das Wahlrecht wird immer wieder kontrovers diskutiert. Vier Thesen, warum Wahlrechtsreformen in der repräsentativen Demokratie eine heikle und umstrittene Angelegenheit sind – und warum es sich darüber zu streiten lohnt.

Das Wahlrecht in der politischen und wissenschaftlichen Diskussion

Wahlrechtsdebatten sind in Deutschland ein wiederkehrendes Phänomen. Ob Europäische Union, Bund, Länder oder Kommunen: Wer wählen darf, wer wählbar ist, wie gewählt wird und auf welche Art und Weise die Mandate berechnet werden, bleibt ewiges Diskussionsthema. Nicht selten müssen sich Gerichte mit dem Wahlrecht befassen. Regelungen zur Vergabe von Überhang- und Ausgleichsmandaten scheinen hierfür zuletzt besonders prädestiniert, wie die jüngeren Urteile des Bundesverfassungsgerichts (2008) und des Landesverfassungsgerichts Schleswig-Holstein (2010) zeigen. Gestritten wird außerdem über das Wahlsystem, die Einteilung und Größe der Wahlkreise, die Handhabung von Sperrklauseln, die Verfahren der Mandatsberechnung, das Kumulieren und Panaschieren, das Wahlalter, die Einführung einer allgemeinen Wahlpflicht, der Einsatz computergestützter Wahlverfahren und die Direktwahl politischer Amtsträger. Im Rahmen der Wahlrechtsgrundsätze (Allgemeinheit, Unmittelbarkeit, Freiheit, Gleichheit und Geheimnis der Wahl, Artikel 38 GG) und der geltenden Gesetzgebung kann das Wahlrecht unterschiedlich gestaltet sein, wie der Blick in die Bundesländer zeigt. Unter „Laborbedingungen“ haben sich verschiedene Systeme für die Landtags- und Kommunalwahlen etabliert. Das Spektrum reicht von der personalisierten Verhältniswahl bis hin zur Verhältniswahl mit offenen Listen. Einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Gestaltung und Akzeptanz von Wahlsystemen hat ferner die politische Kultur. Das gleiche Wahlsystem kann in verschiedenen Ländern unterschiedlich bewertet werden. In Deutschland ist etwa ein reines Mehrheitswahlrecht mit der deutschen Konsensdemokratie nicht ohne Weiteres vereinbar. Es gibt also innerhalb eines gewissen Rahmens Spielraum für Reformen beim Wahlrecht – die nötigen politischen und gesellschaftlichen Mehrheiten vorausgesetzt. Wahlrechtsfragen sind so zum festen Bestandteil der politischen Auseinandersetzung zwischen den Parteien geworden. Warum ist das so? Vier Thesen zu der Frage, warum immer wieder über Wahlrecht und Wahlrechtsreformen gestritten wird – und warum es sich darüber zu streiten lohnt.

Das Wahlrecht berührt das Selbstverständnis der repräsentativen Demokratie

Wahlen sind die konstituierenden und identitätsstiftenden Momente der parlamentarischen Demokratie. Kein anderer Modus erscheint besser für die Auswahl politischer Repräsentanten geeignet, kein anderer Modus findet in der Bevölkerung – trotz tendenziell sinkendender Wahlbeteiligung – mehr Anerkennung. Die Legitimität des politischen Systems, mithin der politischen Herrschaft, ist in Deutschland an die Wahl gekoppelt. Die charismatische und die traditionale Herrschaft werden demgegenüber kritisch beurteilt. Wahlrechtsfragen sind also hochsensible Bereiche des Politischen. Sie berühren das Selbstverständnis der repräsentativen Demokratie.

Das Wahlrecht ist Ausdruck des normativen Demokratieverständnisses

Das Wahlrecht ist die Chiffre des normativen Verständnisses von der Demokratie „in der besten aller Welten“. Liberal-postmaterialistische Werte stehen konservativ-materialistischen Werthaltungen idealtypisch gegenüber. Umkämpft sind besonders zwei Aspekte: der Grad der Mitbestimmung sowie die Proportionalität von Wählerstimmen und Mandaten. In der Debatte zählt im Zweifelsfall der Glaube, nicht das bessere Argument.

Wahlrechtsreformen ändern tradierte Machtverhältnisse

Das normative Demokratieverständnis ist die eine Seite, handfeste politische Machtinteressen die andere. Denn jede Wahlrechtsreform schafft unweigerlich Gewinner und Verlierer. Reformen des Wahlrechts können das tradierte Machtverhältnis nachhaltig verändern. Nicht umsonst scheuen die kleineren Parteien das Mehrheitswahlrecht wie der Teufel das Weihwasser. Auch die Forderung nach einer Herabsetzung des Alters für das aktive Wahlrecht ist bis zu einem gewissen Grad interessengeleitet. Hiervon würden vor allem diejenigen Parteien profitieren, die mit ihrer Programmatik jüngere Wähler ansprechen.

Die Bürger haben ein Gespür dafür, ob sie ein Wahlsystem für „gerecht“ oder „ungerecht“ halten

Zugegeben – Wahlrecht ist nicht unbedingt sexy. Nur wenige Bürger können sich für Sperrklauseln, die Finessen von Stimmberechnungsverfahren à la Hare/Niemayer und Sainte-Laguë/Schepers oder die Funktionsweise des Panaschierens und Kumulierens erwärmen. Das Gleiche gilt übrigens auch für manche Studenten der Sozialwissenschaft.

Wahlrechtsfragen gehören im Grundstudium zu den gefürchteten Klausuraufgaben. Das alles mag daran liegen, dass die Diskussion bisweilen technisch-abstrakt daher kommt. Dahinter verbergen sich allerdings, wie gezeigt, stets Werthaltungen. Die meisten Bürger haben so auch ein intuitives Gespür dafür, ob sie ein Wahlrecht für „gerecht“ oder „ungerecht“ halten. Eine gute Voraussetzung, um sie in der Debatte „mitzunehmen“.

Zum Schluss: Ein Plädoyer

Wahlrechtsfragen sind nicht trivial. Sie verdienen eine angemessene Aufmerksamkeit der politischen Akteure und der Öffentlichkeit. Dass Wahlrechtsfragen nicht nur vor dem Hintergrund normativer Demokratieverständnisse, sondern auch als Machtfragen thematisiert werden, ist bis zu einem gewissen Grad legitim. Kein Wahlrecht kann allen Anforderungen gleichermaßen gerecht werden. Einen Königsweg gibt es nicht. Es lohnt zu streiten.

Jan Schoofs

ist Student des Masterstudiengangs Politikmanagement an der NRW School of Governance der Universität Duisburg-Essen. Seine fachlichen Schwerpunkte sind u.a. das politische System des Landes Nordrhein-Westfalen, die Föderalismusforschung sowie die Parteien- und Partizipationsforschung.