Die Visegrád-Gruppe: das neue Machtbündnis in Brüssel?

Gemeinsam haben sie Frans Timmermans als nächsten EU-Kommissionspräsidenten verhindert und sich erfolgreich gegen verbindliche Umverteilungsquoten für Geflüchtete aufgelehnt. Trotz ihrer relativ geringen Einwohnerzahl und Wirtschaftskraft gewinnt die V4-Gruppe zunehmend an Einfluss in Brüssel. Sind die Visegrád-Staaten der neue Gegenpol zu einer von Berlin und Paris dominierten EU?

Als persönlichen Erfolg ihrer gemeinsamen Haltung feierten die vier Visegrád-Staaten den Prozess der Postenbesetzung in Brüssel, an dessen Ende weder Manfred Weber noch Frans Timmermans als Kommissionspräsident vorgeschlagen wurde. Durch den „Sieg über Weber und den Sturz von Timmermans“ habe die Visegrád-Gruppe abermals ihren wachsenden Einfluss in der EU unter Beweis gestellt, triumphierte der ungarische Regierungssprecher Zoltan Kovacs auf Twitter. Besonders die Verhinderung von Timmermans, der wegen seiner anhaltenden Kritik an Polen und Ungarn zum Feindbild deklariert wurde, ist für die V4 eine Genugtuung. Zwar hätte der Europäische Rat den Niederländer auch gegen den Willen der V4 mit qualifizierter Mehrheit als Kommissionspräsidenten vorschlagen können. Doch das hätte zu einer weiteren Spaltung der EU geführt, die letztendlich niemand der Staats- und RegierungschefInnen  in Kauf nehmen wollte. Das Bündnis der vier mitteleuropäischen Länder Polen, Ungarn, Slowakei und Tschechien hat den mächtigen westeuropäischen Staaten damit die Grenzen aufgezeigt.

Mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten

Schon länger gelten die V4 in Brüssel als „Rebellen“ und „Blockierer“ – als mitteleuropäischer Block, der sich mit gemeinsamer Stimme gegen die Politik der WesteuropäerInnen auflehnt. Doch die Zusammenarbeit der Visegrád-Staaten, die sich 1991 im ungarischen Visegrád zu einem regionalen Bündnis zusammenschlossen, um gemeinsam die Anbindung an westeuropäische Institutionen voranzutreiben, war keineswegs von Anfang an eine Erfolgsgeschichte. Die Kooperation der Gruppe war nach dem gemeinsamen EU-Beitritt im Jahr 2004 lange Zeit von Eigeninteressen dominiert. Im Wettbewerb um den Zugang zu EU-Fonds und ausländischen Direktinvestitionen waren die V4-Staaten mehr Konkurrenten  als Partner. Hinzu kommen zahlreiche politische Differenzen, etwa in der Außenpolitik. Während Warschau die Russische Föderation als große geopolitische Bedrohung wahrnimmt, sind Ungarn und die Slowakei russlandfreundlich eingestellt und setzen sich gemeinsam für die Aufhebung der Sanktionen gegen Moskau ein. Gespalten sind die V4 auch bei ihrer Haltung zur europäischen Integration. Ungarn und Polen befürworten ein Europa der Nationen, das den nationalen Regierungen möglichst viel Mitspracherecht einräumt. Die Slowakei hingegen sieht sich als Vorreiterin der europäischen Integration in Osteuropa und hat als einziges Mitglied der V4-Gruppe den Euro eingeführt. Ausdruck dieser Haltung ist auch die jüngste Wahl der proeuropäischen, linksliberalen Zuzana Caputova zur Staatspräsidentin. Aufgrund ihrer Uneinigkeiten und der vergleichsweisen geringen Bevölkerungszahl war die V4-Gruppe daher lange Zeit ohne politische Bedeutung in der Brüsseler Politik und wurde kaum wahrgenommen. Das hat sich seit der Flüchtlingskrise geändert.

Die Flüchtlingskrise als Einigungsfaktor

Die Einwanderung tausender MigrantInnen aus Afrika und dem Nahen Osten seit dem Herbst des Jahres 2015 schweißte die V4 zusammen. Alle Visegrád-Länder sehen Migration als kulturelle, ökonomische und sicherheitspolitische Bedrohung an und lehnen verpflichtende Quoten zur Aufnahme von Geflüchteten konsequent ab. Gemeinsam betonen sie die Bedeutung der nationalen Souveränität und wehren sich dagegen, Entscheidungen aus Brüssel aufoktroyiert zu bekommen. Dahinter steckt die große Befürchtung, in der EU-Politik keine Rolle zu spielen und von den großen Mitgliedstaaten marginalisiert zu werden. Über viele Jahre hat sich in mehreren osteuropäischen Ländern das Gefühl entwickelt, dass die großen westeuropäischen Nationen das Steuer in Brüssel fest in der Hand hielten und über die Regierungen aus Warschau, Budapest oder Prag hinweg entschieden. Als EU-Mitglieder zweiter Klasse ohne großen politischen Einfluss erwartete man von ihnen, sich der Mehrheitsmeinung zu fügen, die die Big Player vorab unter sich ausgemacht hatten. Doch seit der Flüchtlingskrise ist das anders. Denn die V4 haben erkannt, dass die anderen Staats- und RegierungschefInnen im Europäischen Rat nicht so einfach an ihnen vorbeikommen, wenn sie als geschlossene Einheit auftreten. Das zeigte sich auch Ende Juni, als Polen, Ungarn und Tschechien das Bekenntnis des EU-Rates zur Erreichung der Klimaneutralität bis zum Jahr 2050 blockierten und damit einen gemeinsamen Beschluss aller Mitgliedsstaaten verhinderten.

Vom „Policy Taker“ zum „Policy Maker”

Durch ihre Kooperation haben die Visegrád-Staaten ihr politisches Gewicht in Brüssel deutlich erhöht und es geschafft, die asymmetrischen Machtverhältnisse ein Stück weit aufzubrechen. Einerseits, weil die Visegrád-Staaten etwa im Rat aggregiert genauso viele Stimmen haben wie das deutsch-französische Bündnis (58), das als Vorreiter der europäischen Integration und Taktgeber der EU gilt. Andererseits, weil sie die politische Repräsentation der osteuropäischen Mitgliedsstaaten verkörpern und jede Entscheidung gegen den Willen der V4 zu einem Bruch zwischen West- und Osteuropa führen könnte, den sich die EU nicht leisten kann und will. Bestes Beispiel dafür ist die Nominierung von Frans Timmermans, die am Widerstand der Visegrád-Gruppe scheiterte. Durch ihr gemeinsames Vorgehen haben sie es geschafft, Entscheidungen der EU aktiv mitzugestalten. Der ungarische Politikwissenschaftler Sándor Gallai beschreibt dies als Transformation der Visegrád-Gruppe vom „Policy Taker“ zum „Policy Maker“.

Die V4 als neuer Machtfaktor

Trotz einiger Differenzen hat die Visegrád-Gruppe es so geschafft, die Entscheidungsstrukturen in der EU zu verändern. Sie hat sich erfolgreich gegen das von ihr empfundene Diktat aus Berlin und Paris aufgelehnt. Gemeinsam mit weiteren euroskeptischen Regierungen könnte sie das Herzstück einer neuen Anti-Brüssel-Koalition und damit den Gegenpol zum deutsch-französischen Bündnis bilden. Die mittlerweile abgelöste italienische Regierung um Innenminister Matteo Salvini befand sich bereits in vielen Fragen auf einer Linie mit den Visegrád-Staaten. Insbesondere in Fragen der Migration trifft das auch auf weitere Mitgliedsländer wie etwa Österreich oder Bulgarien zu. Zwar geben die V4 in Brüssel noch lange nicht den Ton an, doch sind sie im Europäischen Rat und Ministerrat zu einem Machtfaktor geworden, den man nicht unterschätzen sollte. Durch das konsequente Auftreten des Bündnisses haben sich die Machtverhältnisse in Brüssel verschoben und Entscheidungsfindungen sind noch schwieriger geworden.

Jonas Sterzenbach studierte Politik- und Wirtschaftswissenschaften in Erfurt und Vilnius und ist seit 2017 Masterstudent an der NRW School of Governance. Praktische Erfahrungen sammelte er unter anderem bei Praktika im Deutschen Bundestag und einer Politikberatung sowie bei seiner Werkstudententätigkeit für einen Wirtschaftsverband.