E-Voting in Estland: Auch eine Idee für Deutschland?

In dem kleinen baltischen Staat Estland können Bürgerinnen und Bürger ihre Stimmen bei einer Wahl schon seit mehreren Jahren auf digitalem Weg abgeben. Aber ist das auch eine Idee für das deutsche Wahlsystem – beispielsweise während einer Pandemie?

Die Corona-Pandemie verändert das gesellschaftliche Leben in allen Facetten. Durch die Krise wurden viele Prozesse deutlich schneller digitalisiert: Was vor einem halben Jahr noch als undenkbar galt, ist heute Realität. Beispielsweise tagen Parteien digital per Zoom und viele ArbeitnehmerInnen arbeiten im Home-Office. Aber ist diese Krise auch eine Chance für unser Wahlsystem? Wie wäre es, vom Sofa aus seine Stimme digital abgeben zu können? Estland macht es durch ein E-Voting-System vor. Im nördlichsten der drei baltischen Staaten können die Bürgerinnen und Bürger ihre Stimme seit 2005 flächendeckend und über alle Ebenen hinweg online abgeben. Damit ist es das einzige Land, indem das in diesem Umfang möglich ist. Aber eignet sich das auch für Deutschland – beispielsweise für die Kommunalwahl am 13. September 2020 in Nordrhein-Westfalen?

Wie funktioniert E-Voting in Estland?

Für das E-Voting in Estland wurde der gesamte Wahl-Prozess digitalisiert. Alle wahlberechtigten EstInnen können ihre Stimme vom eigenen Zuhause über ein privates Endgerät abgeben. Um sicherzustellen, dass die Person, die ihre Stimme abgibt, auch die wahlberechtigte Person ist und die Stimme geheim und verschlüsselt übermittelt wird, hat Estland ein mehrstufiges Konzept entwickelt: In der ersten Stufe muss die wahlberechtigte Person mit Hilfe eines Personalausweises identifiziert werden, der verpflichtend mit einer digitalen Signatur ausgestattet ist. Mit einem Chip auf einem im Vorfeld zugesandten Dokument kann man sich in das Wahlsystem einloggen und die Identifikation mit einem speziellen Kartenlesegerät und einer PIN abschließen. Das Verfahren ähnelt also dem, was man bereits vom Online-Banking kennt. Anschließend erhält die Person Zugriff auf die Kandidatenliste, eine zweite PIN dient als Online-Unterschrift zur Bestätigung der Wahl. Im Anschluss wird die Stimme verschlüsselt weitergeleitet.

Mithilfe des E-Votings können WählerInnen bereits einige Tage vor dem Wahltermin ihre Stimme abgeben. Für den Fall, dass man in dieser Zeit seine Meinung ändert, besteht die Möglichkeit, Änderungen vorzunehmen. Final zählt die Stimme, die zuletzt abgegeben wurde. Außerdem ist es möglich, seine Stimme sowohl analog als auch digital abzugeben. In diesem Fall zählt die Stimme, die analog abgeben wurde. Wenn die Wahllokale schließen, wird erst der Datenpool bereinigt, dann werden die Stimmen final entschlüsselt. Eine Rückverfolgung auf personenbezogene Daten ist dann nicht mehr möglich. Die Möglichkeit der Manipulation wird durch mehrfache Prüfung weitestgehend ausgeschlossen, ein Restrisiko besteht jedoch immer. Bis heute gab es beim Wählen aber keine nennenswerten Probleme, jedoch wurde Estland 2007, 2008 und 2009 Ziel von massiven Cyberangriffen.

Alle Zweifel beseitigt?

Einige Kritiker argumentierten, dass die Online-Stimmabgabe eher durch Druck oder Beeinflussung das Wahlergebnis verfälschen und somit die freie Stimmabgabe eingeschränkt werden kann. Dies könnte beispielsweise dann der Fall sein, wenn eine Person durch Bedrohung von Dritten dazu gezwungen wird, ihre Stimme online einer bestimmten Partei zu geben. Da die Stimme im Verlauf noch korrigiert werden kann und auch die Wahl im Wahllokal möglich ist, wurde dieses Argument zerschlagen.

Des Weiteren gab es Bedenken, ob das Verfassungsprinzip der Wahlgleichheit zwischen denjenigen, die einen Internetzugang haben und denjenigen, die keinen Internetzugang haben, tangiert würde. Der estnische Staatsgerichtshof definierte die Wahlgleichheit so, dass jeder die Möglichkeit haben muss, das Wahlergebnis mit der gleichen Möglichkeit beeinflussen zu können. Dem Prinzip kommt man damit nach, dass nur die zuletzt abgegebene Stimme online oder die analoge Stimme zählt. Dennoch liegt die Vermutung nahe, dass das sogenannte „Family-Voting“ durch das E-Voting begünstigt wird, sodass Familien alle zusammen und nicht geheim ihre Stimme für eine Partei abgeben. Ein weiterer Kritikpunkt war das teilweise Wegfallen des symbolischen Aktes des Wählens im Wahllokal. Der Verlust des sogenannten demokratischen Gemeinschaftsgefühls und somit eine Entfremdung der Demokratie wurden teilweise befürchtet.

E-Voting: Chancen und Grenzen

Die Hoffnung, Kosten durch E-Voting einsparen zu können, weil beispielsweise Wahlzettel nicht mehr bedruckt werden müssen, erwies sich als Irrtum, da für jeden die Möglichkeit gegeben sein muss, analog zu wählen. Zudem verursacht die Entwicklung und Wartung des Systems Zusatz-Kosten.

Auch die Wahlbeteiligung veränderte sich nach der Einführung. Diese stieg von 2003 bis 2007 leicht um drei Prozentpunkte an. Bei der Parlamentswahl 2015 lag die Wahlbeteiligung bereits bei 64 Prozent. Der Trend der Beteiligung ist seit 2003 leicht positiv. Bei der estnischen Parlamentswahl im März 2019 nutzen schon 28 Prozent der Wahlberechtigten die Möglichkeit des E-Votings. Die Wahlbeteiligung lag jedoch mit 63 Prozent etwas unter der von 2015.

Eine Idee für Deutschland?

Es ist nahezu unmöglich, ein Konzept von einem Land in ein anderes Land zu übertragen und dort zu implementieren, wenn diese Länder grundlegend unterschiedliche kulturelle, politische und sozialstrukturelle Gefüge und Verhältnisse aufweisen.

Deutschland besitzt im Vergleich zu anderen Ländern eine eher hohe Wahlbeteiligung. Außerdem hat Deutschland eine Briefwahltradition, die neben der analogen und digitalen Wahl als dritte Komponente ebenfalls berücksichtigt werden müsste. Auch strukturelle Argumente spielen eine Rolle. In Estland leben rund 1,3 Millionen Menschen. 900.000 davon sind wahlberechtigt. Somit hat der baltische Staat weniger Einwohner als die Stadt München und weist zudem eine geringe Bevölkerungsdichte auf. Dies steigert die Attraktivität und die Akzeptanz des E-Votings, da lange Wege zum Wahllokal nicht mehr nötig sind. Deutschland hat 82 Millionen Einwohner und eine deutlich höhere Bevölkerungsdichte. Das Argument der langen Wege zum Wahllokal dürfte hierzulande keine Rolle spielen.

Des Weiteren ist Estland eine junge Demokratie, die nach dem Zusammenbuch der Sowjetunion die postkommunistische Transformation als Chance wahrgenommen hat. Hier war es einfacher, ein neues Wahlsystem zu etablieren, als es in Deutschland mit seinen langen bestehenden demokratischen Strukturen möglich wäre.

Ein weiterer Faktor, der das E-Voting in Estland befördert, ist die grundsätzliche Bereitschaft der Bevölkerung, persönliche Daten über das Internet zu übermitteln. 2007 tätigten bereits rund 79 Prozent der Estinnen und Esten, die das Internet nutzen, ihre Bankgeschäfte online – 2015 waren es 93 Prozent. Der Anteil der Online-Banking-NutzerInnen in Deutschland belief sich im Jahr 2018 auf 59 Prozent. Im Jahr 2007 haben 86 Prozent der Estinnen und Esten ihre Steuererklärung digital eingereicht. Darüber hinaus spielten datenschutzrechtliche Bedenken in der estnischen Debatte keine bedeutende Rolle. Auch hier ist davon auszugehen, dass eine solche Diskussion in Deutschland deutlich anders verlaufen würde, da vermutlich eher auf die Gefahren von Viren, Trojanern und Hackerangriffen hingewiesen würde. Auch die Frage der Komplexität würde in einer deutschen Debatte eine größere Rolle spielen.

Jedoch fand der Verband Bitkom heraus, dass die Hälfte der Deutschen digital wählen würden und somit dieser Technologie nicht grundsätzlich abgeneigt gegenüberstehen. Auch die Tatsache, dass es in Deutschland genau wie in Estland den elektronischen Personalausweis gibt, könnte ein Schlüssel zur Einführung des sicheren E-Votings sein.

Solange jedoch Sicherheitsprobleme in Deutschland nicht gelöst sind, wird es wohl keine E-Voting-Angebot geben. Auch die föderalen Strukturen können hier hinderlich und förderlich zugleich sein. Es besteht die Gefahr einer Fragmentierung, wenn jedes Bundesland an einer eigenen Lösung für eine jeweilige Kommunal- oder Landtagswahl arbeitet. Jedoch kann auch Druck über den Bundesrat auf die Bundesebene ausgeübt werden, schneller eine gemeinschaftliche Lösung zu erarbeiten.

Auch die Entwicklung eines sicheren Verfahrens würde andauern, sodass das E-Voting für die diesjährige Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen definitiv keine adäquate Lösung darstellt. Falls sich die Corona-Infektionszahlen drastisch erhöhen und die Entscheidung getroffen wird, die Kommunalwahl durchzuführen (danach sieht es derzeit aus), ist davon auszugehen, dass die Briefwahl in den Fokus rückt und/oder die Wahllokale in so große Räumlichkeiten verlegt werden, dass die hygienischen Bedingungen eingehalten werden können. Rechtliche Gegebenheiten müssten hier jedoch geprüft werden.

Kurz- bis mittelfristig wird es in Deutschland kein E-Voting-Angebot geben. Eines ist jedoch gewiss: Fällt eine Entscheidung für die Online-Wahl, muss hierbei mit einigen rechtlichen, politischen und technischen Hindernissen gerechnet werden.

Frederik Paul studiert im Bachelor Politikwissenschaften an der Universität Duisburg-Essen. Praktische Erfahrungen hat er durch die Arbeit im “politisch-ehrenamtlichen Bereich” und durch zahlreiche Praktika erworben. Schwerpunkte seiner Arbeit sind: Kommunal- und Landtagspolitik, Verwaltungswissenschaften und Föderalismus.