Ein Leben ist zu wenig

In seinem zweiten Interview mit dem hammelsprung spricht Gregor Gysi über sein politisches Leben und den aktuellen Hass im Internet. 

Gerls: Herr Gysi, was hat sich in Ihrem politischen Leben nach dem Mauerfall am meisten geändert? Mit welchen Vorurteilen waren Sie damals besonders konfrontiert?

Gregor Gysi: Damals in der DDR habe ich Dissidenten verteidigt. Im September 1989 kam das Neue Forum zu mir, eine neue oppositionelle Organisation in der DDR, welche die Zulassung als Verein beantragt hat. Diese wurde vom Innenminister abgelehnt, mit der Begründung, es sei verfassungsfeindlich. Hiergegen habe ich Beschwerde eingereicht. Das wurde mir übel genommen, das Forum wurde aber zugelassen. Dann luden mich die Schauspielerinnen Johanna Schall und Walfriede Schmitt ein, um über die Grenzen der Polizei bei Demonstrationen zu sprechen. Ich schlug vor, dass man mal eine legale Kundgebung beantragen könnte, anstatt immer illegal zu demonstrieren. Das haben wir gemacht und so kam es dann zur Kundgebung am vierten November 1989 auf dem Alexanderplatz – eine der größten Kundgebungen der deutschen Geschichte mit bestimmt einer halben Million Menschen. Mir wurde angeboten, direkt nach den Schauspielerinnen und Schauspielern zu sprechen. Am nächsten Tag rief mich Lothar de Maizière an, damals schon Vorsitzender der CDU. Er sagte, am Montag solle ein Reisegesetzentwurf veröffentlicht werden. Daraufhin rief ich Günther Schabowski an, der mir einen Tag zuvor seine Visitenkarte gegeben hatte. Er sagte, ich solle vorbeikommen und mir das Gesetz einmal anschauen. Ich habe dann direkt einen eigenen Gesetzentwurf geschrieben. Mein Gesetzentwurf habe er Egon Krenz gezeigt, der sich aber nicht dafür interessierte. Am nächsten Tag war ich dann im Fernsehen der DDR, um über den Gesetzentwurf zu sprechen. Ich sagte, wir brauchen ein richtiges Reisegesetz. Danach war ich einer der beliebtesten Politiker der DDR.

„Probleme ziehen mich scheinbar an“

Dann kam der neunte November, bei dem aus Versehen die Mauer geöffnet wurde. Jetzt änderte sich meine Situation. Die früheren Dissidenten brauchten mich nicht mehr. Die ganze öffentliche Kritik richtete sich gegen die SED. Zurecht, aber irgendwie auch übertrieben. Also nach dem Fernsehauftritt war ich einer der beliebtesten Politiker der DDR, wurde dann SED-Vorsitzender und wurde damit einer der Unbeliebtesten in der DDR. Probleme ziehen mich scheinbar an. Ein bisschen wie die SPD, die hat momentan auch nur Probleme. Damals widerfuhr mir entweder Hass oder Liebe. Beides war anstrengend. Angespuckt zu werden war anstrengend – aber auf der anderen Seite die Hoffnung vieler, ich könne alle ihre Probleme lösen. Ich bin aber nicht Gott, wie hätte ich das denn alles hinbekommen sollen. Ich war in Dresden, alle wollten mich anfassen. In Gaststätten wurde ich entweder gar nicht bedient oder ich sollte nicht bezahlen. Das war eine anstrengende Zeit. Ich habe meine Autobiographie „Ein Leben ist zu wenig“ genannt. Ich habe bisher sechs Leben geführt. Die letzten zwei Leben in der BRD. Im fünften Leben wurde ich von fast allen abgelehnt. Im sechsten Leben werde ich von einer Mehrheit akzeptiert. Erst im Osten, dann im Westen und zum Schluss auch in Bayern.

Meiß: Wie gehen Sie heute mit Hass um? Haben Sie das Gefühl, es hat sich ein neuer Raum des Sagbaren eröffnet?

Gregor Gysi: Ja, also die AfD, als ich jetzt gesprochen habe, hat gegen mich gehetzt, so wie ich es schon seit Jahrzenten nicht mehr erlebt habe. Aber nur die AfD. Alle anderen nicht. Die FDP hat das sowieso nie gemacht, die CDU immer so ein bisschen und die anderen sowieso nicht – weder SPD noch Grüne.

„Man könnte natürlich versuchen sowas ähnliches wie den Bundesrechnungshof zu installieren“

Bezüglich der Sozialen Netzwerke habe ich den Vorteil, dass ich sie insoweit ignoriere, als ich nicht lese, was da über mich geschrieben wird. Aber die Frage ist berechtigt. Natürlich, der Ton ist viel rauer geworden. Es hängt mit der Anonymität zusammen. Es ist etwas anderes, die Dinge jemanden ins Gesicht zu rufen oder einfach zu twittern und seine ganze Wut rauszulassen in jeder Hinsicht. Durch Twitter werden natürlich auch viele Fehlinformationen verbreitet, was auch Konsequenzen hat. Ehrlich gesagt, dafür ist mir noch keine Lösung eingefallen. Man könnte natürlich versuchen so etwas ähnliches wie den Bundesrechnungshof zu installieren. Der Bundesrechnungshof sagt den Ministerien, wie und wo sie Geld falsch ausgegeben haben – und er ist nicht käuflich. Aber ich weiß nicht, ob man so etwas für die Medienwelt erfinden kann. Vielleicht etwas, wo man sich erkundigen kann. Man schreibt dorthin und fragt, stimmt das? Es gibt ja schon solche Ansätze. In einem Mordprozess, in welchem ich die Geschädigten vertreten habe, wurde ich gefragt, ob denn das Bild und der Text stimmen. Und das konnte ich widerlegen.

„Wie immer läuft der Gesetzgeber hinterher“

Wir haben eine ausgeprägte Rechtsprechung für Gegendarstellung, Unterlassung und Widerruf in der Presse, das hat aber mit den Sozialen Medien nichts mehr zu tun. Wie immer läuft der Gesetzgeber hinterher. Er muss sich jetzt etwas überlegen. Er muss die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit und trotzdem auch die Rechte Dritter sichern, die da permanent verletzt werden.

Meiß: Sie bezeichnen sich als Politiker, Anwalt, Moderator und Autor. Wenn Sie sich für eine Tätigkeit entscheiden könnten, welche würden Sie wählen?

Ich denke Anwalt, da ich dort noch am sichersten auftrete. Aber in meinem Wesen liegt, dass ich die Abwechslung brauche. Mir hat Anwalt nie genügt. In der Politik kann ich Reden halten und versuchen den Zeitgeist zu verändern. Aber ich kann den Menschen nicht direkt helfen. Als Anwalt kann ich den Menschen wiederum in einer konkreten Situation helfen – das fehlt mir in der Politik. Als Anwalt kann ich aber den Zeitgeist nicht verändern. Als Autor kann ich eine andere Öffentlichkeit mit meinen Ideen erreichen. Und ich habe Zeit, die Ideen aufzuschreiben. Und meine Tätigkeit als Moderator brauche ich für meine anderen Berufe. Weil ich wissen will, wie andere Menschen denken und gelebt haben. Ich hatte den Chef des Springer-Verlags, Mathias Döpfner, bei mir zu Gast im Deutschen Theater. Mich interessierte, warum er konservativ und ich links geworden bin. Was war in seinem Leben anders? Kurz gesagt, dazu muss ich Moderator sein. Das stärkt mich wieder als Politiker, weil ich weiß, wie andere Menschen denken und ich dann nicht mehr so einseitig in meiner Beurteilung bin.

Vielen Dank für das Gespräch

Das Interview führten Fabian Gerls und Linda Meiß